23 Apr

„Tragetuch & Co“ Teil 2

Nach einem sehr interessanten Gespräch ( siehe Teil 1) mit Anita ( Name geändert), einer jungen Mutter,  zum Thema Tragetuch tauchten noch weitere Fragen auf. Das Tragetuch, beliebt bei jungen Müttern und von  Kinder-PhysiotherapeutInnen kritisch beobachtet – was sollte man darüber wissen?

Anita: Hallo, ich habe mich schon gefreut, noch mehr über das Tragetuch zu hören!

Mareike Dornheim: Das freut mich! Haben Sie sich nochmal Gedanken gemacht über unser letztes Gespräch?

A: Ja. Ich habe festgestellt, dass ich mit meiner Tochter Lena (Name geändert), sie ist jetzt knapp 11 Wochen, richtig gut kommunizieren kann. Ich habe sie mir auf den Bauch gelegt und mit ihr erzählt. Ich habe den Eindruck, sie hat genau zugehört. So süß! Und danach ist sie auch sehr zufrieden, so dass ich ein bisschen Zeit für den Haushalt habe.

M.D.: Das hört sich ja wunderbar an.

A: Ja, ich mache jetzt Sachen nicht mehr so halbherzig. Wenn ich bei ihr bin, bin ich ganz da und dann gibt es auch immer wieder Zeiten, in denen ich Luft habe, etwas anders zu tun. Aber Sie wollten mir ja noch etwas über die Traghilfen erzählen….

Tragetuch: Zu früh in der aufrechten Sitzhaltung

M.D.: Die Kinder werden meistens aufrecht getragen, auch wenn sie diese Haltung noch nicht stabilisieren können. Die Tragehilfe unterstützt das Baby, aber zusätzlich arbeitet es auch mit. Für diese  Stabilisation nutzt das Kind frühkindliche Reaktionen (insbesondere des TLR und der Fechterstellung) , die aber eigentlich vom Großhirn überlagert werden sollten (mehr dazu in meinem Blog „Plädoyer für die Seitenlage“ oder in dem Buch „Flügel und Wurzeln“ von Dorothea Beigel oder „Greifen und Begreifen“ von Sally Goddard). Wenn die Kinder alleine in den Sitz kommen, ist das aufrechte Tragen kein Problem. Die frühkindlichen Reaktionen sind dann nicht mehr bestimmend.

A: TLR und Fechterstellung… habe ich vorher noch nie gehört.

M.D.: Das ist nicht schlimm. Das sind ja auch Fachbegriffe. Zwei Ausbilderinnen einer Trageschule , die ich letztens gesprochen habe, kannten diese frühkindlichen Reaktionen auch nicht. Um aber zu erklären, warum das aufrechte Tragen so ungünstig ist, muss ich sie verwenden. Wenn diese beiden frühkindlichen Reaktionen durch die aufrechte Haltung trainiert, statt überlagert zu werden, können Schwierigkeiten z. B. Rückenschmerzen, auffälliges Sozialverhalten und Schulschwierigkeiten trotz guter Intelligenz auftreten. Ausgelöst werden diese beiden frühkindlichen Reaktionen durch die Kopfstellung.  Der TLR durch die Reclination bzw. Inclination ( Beugung des Kopfes nach hinten Richtung Rücken bzw. nach vorne Richtung Brust), die Fechterstellung durch die Drehung des Kopfes. 

A: Ganz schön komplex dieses Thema! Komisch, dass ich davon noch nichts gehört habe.

Frühkindliche Reaktionen – Fachwissen von Kinderärzten, Kinder-Physiotherapeuten und Ergotherapeuten

M.D.:  Naja, das ist Fachwissen von Kinderärzten, Kinder-Physiotherapeuten und Ergotherapeuten.

A: Ah… ich verstehe.

M.D.: Zunächst scheint das Tragen in der Tragehilfe gut. Probleme treten meistens erst später auf. 

A: Was meinen Sie mit später?

M.D.: Wenn die Kinder älter sind. Meistens werden die Kinder mit Restreaktionen, also Kinder bei denen man die frühkindlichen Reaktionen noch auslösen kann, erst im Kindergarten oder in der Schule auffällig.

A: Wieso das denn?

M.D.: Naja, je älter die Kinder werden, desto komplexer werden die Anforderungen. In der Schule müssen sie sitzen bleiben, zuhören, die Stimme des Lehrers aus dem Geräuschpegel heraus filtern, den Stift halten, in der Linie bleiben, das Gelernte speichern….

A: Oh ja, das sind ganz schön viele Dinge gleichzeitig.

M.D.: Ja und wenn das Kind noch Restreaktionen zeigt, z.B. den TLR, dann ist es für das Kind schwierig, gerade sitzen zu bleiben. Das Sitzen ist nicht automatisiert und  das Kind braucht viel Energie für das Sitzen. Dadurch fehlt die Kapazität für Lerninhalte und das Kind bleibt unter seinen Möglichkeiten.

A: Das heißt, es ist wichtig, dass diese frühkindlichen Reaktionen überlagert werden. Sonst hat das Kind schlechtere Noten als es der Auffassungsgabe des Kindes entspricht.

M.D.: Genau. Und in Tragehilfen werden zwei dieser frühkindlichen Reaktionen eher verstärkt als überlagert.

Die beste Unterstützung für Ihr Kind

A: Und wie kann ich mein Kind dabei unterstützen?

M.D.: Indem Sie Ihrem Kind möglichst viel Zeit und Gelegenheiten bieten, sich gegen die Schwerkraft zu organisieren. Also einfach viel flach hinlegen. Dann kann es in Bauchlage üben, den Kopf gegen die Schwerkraft zu halten. Ihre Tochter übt bestimmt schon den Unterarmstütz und in Rückenlage fasst Lena an die Knie, oder?

A: Ja, genau. Das macht Lena seit ein paar Tagen.

M.D.: Super. Genau dadurch werden die frühkindlichen Reaktionen überlagert. Durch diese Bewegungen kommt es zu einer Nackenstreckung, die so in der Tragehilfe nicht möglich ist.

A: Stimmt, in der Tragehilfe ist der Kopf oft zu einer Seite gedreht oder er ist ein bisschen nach vorne oder hinten gebeugt.

M.D.: Genau und das ist das Problem. Durch die Kopfdrehung verstärkt sich die Fechterstellung, durch die Beugung der TLR.

A: Gut zu wissen! Für mich ist das alles sehr einleuchtend. 

M.D.:  Das freut mich. Wenn Sie noch Fragen haben, beantworte ich Sie Ihnen gerne bei unserem nächsten Treffen.

A: Super! Vielen Dank!