Letztens im Park. Zwei junge Mütter unterhalten sich und unweigerlich muss ich dem Gespräch ein wenig lauschen. Die beiden erzählen von ihren Töchtern, jeweils zwei Jahre alt, die gerade gelernt haben, mit dem Laufrad zu fahren. Beide Mütter sind gleichermaßen stolz über die neu erworbene Fähigkeit ihrer Kleinen und natürlich begeistert, mit welchem Tempo die Kinder sich nun fortbewegen können.
Auch in meiner Praxis höre ich immer wieder, dass die Kinder vom Rutschauto oder Bobbycar zum Laufrad wechseln und dieses bereits mit eineinhalb Jahren fahren können. Natürlich sind die Eltern begeistert! Und ja, das Laufrad passt ganz wunderbar in unsere schnelle Zeit. Es ist eine geniale Erfindung!
Wann aber ist der richtige Zeitpunkt für diese „geniale Erfindung“?
Kaum ein Erwachsener hat noch so richtig viel Zeit – egal wofür – und mit dem Laufrad können die Kleinen einigermaßen mit dem Tempo der Großen mithalten. Außerdem kommen sie beim Spaziergang nicht auf die Idee, permanent anzuhalten, um ihre Umwelt zu erkunden.
Kinder, die zu Fuß gehen, bleiben dauernd stehen, um Schnecken oder Steine einzusammeln, in Pfützen zu springen oder einfach um stehen zu bleiben. Kinder, die mit dem Dreirad fahren, verhalten sich ähnlich, denn das Dreirad ist ein langsames Fortbewegungsmittel. Wie auch beim Gehen nehmen Kinder dabei die Umwelt intensiv wahr und wollen auch immer wieder mal stoppen, um die eine oder andere Überraschung zu erleben. Die Welt ist für ein Kind voller Wunder!
Mit dem Tempo, das ein Laufrad ermöglicht, wird diese Wahrnehmung der Umwelt unweigerlich eingeschränkt. Vielleicht können Sie sich an Ihre erste lange Wanderung erinnern, in einer Gegend, die Sie bereits gut kennen, und sich selbst sagen hören: „Wenn man geht, nimmt man das alles ganz anders wahr! Das… ist mir aus dem Auto noch nie aufgefallen.“
Dies bedeutet nicht, dass man Laufräder verdammen muss. Auch Laufräder sind ein Spielzeug, das Kinder lieben! Vielleicht stellt man sie den Kindern nur erst etwas später zur Verfügung? Doch lassen Sie mich die beiden Spielgeräte Laufrad und Dreirad einfach vergleichen.
Das Laufrad
Laufrad fahren ist einfach, vor allem, wenn das Kind die Abstoßbewegung der Beine bereits vom Bobbycar kennt. Ohne langes Üben können Kinder mit den Laufrädern beim Spaziergang mithalten, je schneller das Tempo, desto einfacher das Fahren.
Warum?
Nun, Sie kennen das sicher vom Radfahren! Wenn man sehr langsam fährt, wird es immer schwieriger, das Gleichgewicht zu halten. Zwei- bis dreijährige Kinder müssen erst lernen, das Gleichgewicht zu halten und können Geschwindigkeit weder einschätzen noch dosieren – das bedeutet, dass beim Fahren mit dem Laufrad das Gleichgewicht halten nur gelingt, wenn sie einigermaßen schnell fahren. DASS sie schnell fahren, können sie aber nicht bewusst erfassen!
Warum?
Die visuelle Wahrnehmung entwickelt sich am stärksten zwischen drei und sieben Jahren. Kinder vor dem dritten Lebensjahr können das Sehen noch nicht ausreichend mit den Bewegungen ihres Körpers koordinieren, außerdem können sie Entfernungen noch nicht sicher abschätzen. Beim schnell Fahren mit dem Laufrad bekommen sie so viele visuelle Eindrücke, dass es für die Kleinen unmöglich wird, diese zu verarbeiten – langsam fahren schaffen sie aber kaum.
Der Gleichgewichtssinn wird übrigens beim Laufrad fahren nur mäßig trainiert. Um das Gleichgewicht zu trainieren, ist Roller fahren deutlich sinnvoller als Laufrad, da das Körpergewicht auf ein Bein verlagert werden muss.
Beim Laufrad fahren wird die Beinmuskulatur kaum gekräftigt, denn das Körpergewicht wird fast vollständig vom Sattel getragen.
Das Dreirad
Das Dreirad erfordert eine höhere Koordinationsleistung als das Bobbycar oder Laufrad. Geeignet ist das Dreirad für Kinder, die die Pedalen gut erreichen können. Dreirad fahren fördert die Koordination, während mit den Pedalen abwechselnd getreten werden muss, muss zeitgleich mit dem Lenker stabilisiert werden.
Das Dreirad fahren kräftigt die Muskulatur, allerdings nur, wenn das Kind selbständig fährt. Durch eine Schiebestange werden Kinder passiv und bewegungsarm.
Kinder, die Dreirad fahren können, können anschließend in der Regel ohne Probleme Laufrad fahren. Andersrum ist es nicht so. Kinder, die früh Laufrad fahren, haben meistens Schwierigkeiten mit dem Dreirad. Das zeigt, wie anspruchsvoll Dreirad fahren ist.
Vor dem Kauf von Fahrzeugen sollten Kinder viel zu Fuß unterwegs sein!
Bis ungefähr zweieinhalb Jahren sollten Kinder überwiegend laufen, damit sie ihre Umwelt erleben können. Genau darum geht es in den ersten Lebensjahren! Bilder im Gehirn zu speichern, damit sie später mit Vorstellungen operieren können. Vielleicht haben Sie auch mit ihren Fingern oder Gummibärchen zählen geübt, jetzt können sie mit den Zahlen auch ohne Gummibärchen rechnen. Bestimmt haben Sie früher auch Blätter, Äste, Früchte oder Blumen gesammelt und so die Natur, die Jahreszeiten, Gewichte und Größen kennen gelernt.
Kann das Kind gut und ausdauernd Dreirad fahren, ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um ein Laufrad oder noch besser einen Roller zu besorgen. Roller und Laufrad bereiten dann gut auf das Fahrrad fahren vor.
Übrigens:
„In Deutschland besitzen mehr als 90% der 4 jährigen Kinder ein Fahrrad, obwohl sich Entwicklungspsychologen einig sind, dass Kinder in diesem Alter nicht in der Lage sind, die mit dem Radfahren verbundenen Anforderungen zu bewältigen. Gleichzeitig treten, lenken, bei hoher Geschwindigkeit schnell reagieren, bremsen, das seitliche Geschehen wahrnehmen und dabei nach vorne schauen – noch im späten Grundschulalter sind Kinder mit dem Fahrrad im Verkehr häufig überfordert“ (Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder.e.V.)
Vielleicht überdenken Sie noch einmal den Einsatz von Fahrzeugen. Ich hoffe, ich konnte Ihnen dafür Denkanstöße geben.
Wenn Sie noch Fragen zum Thema haben, schreiben Sie mir gerne!