17 Jan

„Der Zwischenfersensitz“

Neulich hatte ich in einem Seminar ein interessantes Gespräch mit einer Erzieherin, das ich hier gerne wiedergeben möchte. Es geht um den sogenannten „Zwischenfersensitz“ bei Kindern. Das bedeutet, dass das Kind am Boden sitzt, die Beine zu einem W abwinkelt und das Gesäß zwischen den Fersen positioniert.

A: Ich sehe immer öfter Kinder, die im Zwischenfersen sitzen. Was halten Sie davon?

M.D.: In der idealen motorischen Entwicklung kommt dieser Sitz nicht vor. Ich weiß allerdings, dass sehr viele Kinder so sitzen. Bestimmt haben Sie auch schon festgestellt, dass es nichts nützt, den Kindern zu sagen, dass sie sich „vernünftig“ hinsetzen sollen. Kurzfristig können sie vielleicht die Position verändern, fallen aber meistens nach kurzer Zeit in den Zwischenfersensitz zurück. Durch das wiederholte Auffordern für eine andere Sitzposition bekommen sie nur den Eindruck, „irgendetwas stimmt nicht mit mir“, es ist also besser, nicht permanent darauf hinzuweisen.

A: Stimmt, das habe ich auch schon bemerkt. Wenn ich die Kinder korrigiere, sitzen sie kurze Zeit später wieder so.

M.D.: Auch für eine konzentrierte feinmotorische Leistung ist es sinnvoll, die Kinder in dieser Position zu lassen, damit sie nicht ihre ganze Energie für Sitzkorrekturen verpulvern. Sinnvoller ist es, den Grund für diese Haltung zu finden.

A: Okay. Das heißt also, wenn ein Kind sich noch schwer tut mit z.B. malen oder Perlen auffädeln, lasse ich es einfach so sitzen?

M.D.: Ja genau. Denn das Kind bekommt durch den Zwischenfersensitz eine breitere Basis, sitzt dadurch stabiler. Und kann dadurch seine vollständige Konzentration auf das Malen richten – oder was es eben sonst gerade tut.

A: Aber der Sitz sieht irgendwie nicht gesund aus. Wenn ich mich so hinsetze, tut mir das weh.

M.D.: Wie gesagt, der Sitz kommt in der idealen Motorik nicht vor. Er gibt den Kindern eine breite Unterstützungsfläche, so ist es einfacher, das Gleichgewicht zu halten. Ein Betrunkener geht auch nicht im Gänsefüßchengang, sondern breitbeinig. Auch er hat Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht.

A: Ah… die Ursache liegt also im unzureichendem Gleichgewicht?!

Zwischenfersensitz: verschiedene Gründe, eventuell weitreichende Folgen

M.D.: So einfach kann man das leider nicht sagen. Die Ursache für den Zwischenfersensitz kann auch am Antetorsionswinkel der Hüfte liegen. Das kann der Orthopäde abklären.

A: Und woran noch?

M.D.: Ein anderer Grund könnte  ein persistierender STNR (symmetrischer tonischer Nackenreflex) sein. Das ist eine frühkindliche Reaktion, die eigentlich mit circa 10  Monaten überlagert werden sollte.

A: Was meinen Sie mit „überlagert“

M.D.: Es gibt viele frühkindliche Reaktionen. Der symmetrische tonische Nackenreflex ist außer bei Kinderärzten und  Physiotherapeuten, die eine Zusatzausbildung für Kinder haben, leider nicht sehr bekannt. Vielleicht erkläre ich es an Hand der Handgreifreaktion. Kurz nach der Geburt ist sie stark ausgeprägt. Durch das Stützen des Kindes in Bauchlage wird die Handgreifreaktion seltener. Dadurch wird sie „überlagert“. Das Kind kann willentlich die Hand öffnen, etwas greifen und auch bewusst wieder los lassen.

Damit der STNR überlagert wird, ist „das Schaukeln im  Vierfüßlerstand“ wichtig.  vgl im Video Helenchen

A: Ah… ich verstehe. Die frühkindlichen Reaktionen werden von der Willkürmotorik praktisch abgelöst. Kann man das so sagen?

M.D.: Ja, genau. Die frühkindlichen Reaktionen sind während der Schwangerschaft, der Geburt und den ersten Lebensmonaten wichtig. Dann sollten sie sich immer mehr abschwächen. Sie sind so eine Art Notfallprogramm. Manche Kinder zeigen noch Restreaktionen. Sie machen das Leben schwieriger. Das heißt nicht, dass  man nicht auch mit Restreaktionen Abitur machen kann, aber es ist schwieriger. Oder, dass man früh orthopädische Probleme bekommt, aber es ist wahrscheinlicher.

A: Wow… so weitreichende Konsequenzen können sie haben?

M.D.: Ja. Leider wissen nicht viele von diesen Zusammenhängen. Ich habe letztes Jahr eine Frau behandelt. Sie ist jetzt 58 Jahre und hat schon viele Jahre Rückenschmerzen. Sie hat viel ausprobiert, aber nichts hat längerfristig geholfen. Ich habe sie getestet und den STNR gefunden. Frau Müller (Name geändert) hat mir auch Kinderfotos gezeigt, auf denen sie im Zwischenfersensitz sitzt.

A:  Das ist ja spannend! Und, was haben Sie dann mit Frau Müller gemacht?

M.D.: Ich habe mit ihr die Bewegungsmuster aus dem ersten Lebensjahr eingeübt. Diese frühen Bewegungsmuster sind die Grundlage für alle weiteren Bewegungen. Bei Frau Müller waren die Bewegungsmuster von unzureichender Qualität. Teilweise hat sie die Bewegungen mit Hilfe von frühkindlichen Reaktionen gemacht. Und das macht auf Dauer Beschwerden.

Enorm wichtig: Richtige Bewegungen im ersten Lebensjahr

A: Okay, das heißt: Die Bewegungen im ersten Lebensjahr sind extrem wichtig, oder?

M.D.: Genau!  Als Eltern brauchen wir den Babys eigentlich nur genügend Raum und Zeit geben, um diese angeborenen Bewegungsmuster zu üben. Außerdem brauchen sie unsere Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Das gibt den Babys die Sicherheit, die sie zum Erforschen brauchen.

A: Das hört sich einfach an.

M.D.: Ja, eigentlich ist es das auch. Nur in unserer schnelllebigen Zeit müssen die Kinder häufig den Galopp der Eltern mithalten und da fehlt es häufig an Zeit und Ruhe. Der Stress der Eltern überträgt sich auf die Kinder und auch dadurch können frühkindliche Reaktionen wie z.B. der Symmetrische tonische Nackenreflex  ( STNR) bestehen bleiben. Eine andere Ursache für den STNR kann ein zu frühes und häufiges Hinsetzen sein. Setzen sollte man ein Kind erst, wenn es alleine in den Sitz kommt. Mit Sitzen meine ich übrigens auch sitzen in der Wippe, im Autositz oder auf dem Schoß.

A: Was kann denn dieser STNR noch für Probleme machen?

M.D.: Häufig fallen die Kinder im Schulalter mit einer schlechten Haltung auf. Oft laufen sie mit nach innen gedrehten Beinen und Füßen. Teilweise auch auf Zehenspitzen. Meistens fällt es diesen Kind schwer, ruhig auf einem Stuhl zu sitzen oder sie verknoten ihre Beine um die Stuhlbeine. In der Schule ist häufig das Abschreiben von der Tafel für die Kinder sehr mühsam, es geht nur langsam. Teilweise haben sie auch Konzentrationsstörungen und Probleme mit der Handschrift. Viele Kindern haben auch Schwierigkeiten das Brustschwimmen zu lernen. Überhaupt sind Sport und auch Ballspiele häufig eine Qual für Kinder mit STNR. Für sie ist die Koordination von Armen und Beinen schwierig.

A: Der Symmetrische tonische Nackenreflex scheint die Kinder ja ganz schön zu beeinträchtigen.

M.D.: Hm, so einfach kann man das nicht sagen. Manche Kinder sind sehr clever und können sehr gut kompensieren. Aber sie kompensieren und jede Kompensation hat die Gefahr, dass wenn die Aufgabe komplexer wird, die Kompensation zusammenbricht. Deshalb zeigen sich Auffälligkeiten für einen ungeübten Beobachter häufig erst, wenn die Kinder älter werden und ihre Strategien nicht mehr funktionieren.

A: Vielleicht ist es dann am besten für ein gutes erstes Lebensjahr zu sorgen.?!

M.D.: Ich bin davon überzeugt, dass alle Eltern das Beste für ihr Kind wollen und sich bemühen, es so gut wie möglich zu machen. Vielleicht wissen manche Eltern nicht, wie wichtig die motorische Entwicklung in den ersten Lebensmonaten für das gesamte Leben ist. Ich hoffe, dass es durch unser Gespräch etwas klarer geworden ist.

 

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